18.05.2024 20:38 Uhr

Gänsehaut-Abschied für Reus pusht BVB Richtung Wembley

Die BVB-Mitspieler feierten Marco Reus
Die BVB-Mitspieler feierten Marco Reus

Ein letztes Mal vor der Südtribüne: Marco Reus verabschiedet sich emotional und in Vintage-Form vom Dortmunder Westfalenstadion. Zum Abschluss wird es richtig "kitischig". Jetzt hoffen alle auf das große Happy End in Wembley.

"Entscheidend is' aufm Platz", sagte das Dortmunder Fußballidol Adi Preißler einst. An diesem Samstag musste es umgedichtet werden in: Entscheidend is', was Marco Reus macht. Denn das Bundesligaspiel zwischen Borussia Dortmund und dem SV Darmstadt war nur Nebensache. Schon vorher stand fest: Dortmund bleibt Fünfter, Darmstadt steigt als Letzter ab. Der Ausgang des Sommerkicks eigentlich völlig egal.

Nicht egal dagegen: Alle wollten ein letztes Mal Marco Reus in diesem Stadion sehen, bestaunen und bestenfalls mit einem Treffer verabschieden. Sie wurden nicht enttäuscht. Reus erzielte ein Tor und eine Vorlage zum 4:0-Sieg - besser geht's eigentlich nicht. Selbst Reus selbst fand es "ein bisschen kitschig".

BVB: Reus als Kapitän und in der Startelf

Und natürlich schickte Trainer Edin Terzić Reus als Kapitän in die Startelf. So wie früher. Reus, der inzwischen eher Ergänzungs- als Unterschiedsspieler ist, bekam den Gänsehaut-Abschied vor der gigantischen Kulisse. "Es war sehr emotional heute. Alles noch ein letztes Mal zu machen, war etwas ganz Besonderes, Ich hatte mir vorgenommen, alles nochmal zu genießen. Es war rundum perfekt", sagte Reus.

Die Zeremonie, sie begann schon weit vor Anpfiff. Reus durfte eine halbe Minute vor den Teamkollegen zum Aufwärmen raus, wurde sofort von den über 80.000 Fans abgefeiert. "Das war von meiner Seite nicht geplant", erklärte Reus später in der Mixed Zone und grinste. Schon 35 Minuten vor Beginn starteten die "Marco Reus"-Sprechchöre. Zu den Klängen von "Someone like you" von Adele bekam Reus Blumen, Porträt und Abschiedsworte von Vereinsvertretern und Stadionsprecher Nobert Dickel überreicht, danach die erste Runde Abschied vor der Südtribüne, Reus tippte sich aufs Herz, ließ sich feiern.

Die Fans ehrten ihn mit einer riesigen "Danke Marco!"-Choreografie. Dahinter thronte die Nummer 11 in Schwarz und Gelb. Schon auf dem Weg zum Stadion sah man gefühlt noch mehr Trikots mit der Nummer 11 als sonst "Schwarzgelbe Legende" war zum Beispiel zu lesen. "One More Time"-Sound an den Büdchen.

Das Spiel ist schnell zusammengefasst: Dortmund suchte Reus, nach zwei guten Chancen (einmal Latte), legte er per Tunnel die Führung von Ian Maatsen auf. In der 38. Minute ahnten es dann schon manche im Stadion, als der Ball perfekt 17 Meter entfernt für einen Freistoß bereitlag. Die Fans erhoben sich - in die "Hinein"-Rufe schoss er ihn tatsächlich: hinein. Die Mitspieler ließen ihren Kapitän hochleben, der dann Luft-Küsschen für die Zuschauer verteilte. "Es war wie gemalt", sagte Reus über den Treffer.

Mittendrin auf der Südtribüne

Der Moment des Tages folgte in der 81. Minute. Unter Standing Ovations verließ Reus den Platz. Die Teamkollegen standen Spalier, selbst die Darmstadt-Spieler stellten sich daneben und die Gäste-Fans applaudierten mit. Auch das muss man sich erst mal erarbeiten. Etwas später dann, um 17:18 Uhr, ertönte der Schlusspfiff für das letzte Spiel des Angreifers in Dortmund. Reus kletterte über den Zaun, bahnte sich den Weg zum Vorsänger der Ultras. Einer von ihnen. "Wir gewinnen den Pokal", "Europapokal!" "Wir sind alle Dortmunder Jungs" - das volle Programm.

"Ich bin sehr dankbar, dass sie mir die Chance gegeben haben, dort hinzugehen", erklärte Reus zum Ausflug auf die Fanränge. Der Gefeierte revanchierte sich sogleich. Reus ließ Tausende Liter Freibier für die BVB-Anhänger springen. Und nach einer Ehrenrunde samt Konfettikanonen-Einlage von Niclas Füllkrug endete die Reus-Feier erneut vor Südtribüne.

Da stand er also eine halbe Stunde nach Abpfiff vor der immer noch prall gefüllten "Gelben Wand". Nur alles noch emotionaler aufgeladen als sonst schon. Ein letztes Mal als Spieler von Borussia Dortmund. Ein letztes Mal Tollhaus Westfalenstadion. Marco Reus im Mittelpunkt. Etwas, das er nicht unbedingt sucht oder braucht. Heute aber war es unausweichlich, das Mindeste. Die große Verneigung. Was ihm durch den Kopf ging, wissen wir nicht. Vielleicht einige der vielen unglaublichen Momente in diesem Stadion.

Marco Reus geht als BVB-Legende

Sein wichtiger Doppelpack beim 3:2 gegen den FC Bayern 2018.

Oder sein Derby-Treffer und ikonischer "Robin"-Jubel neben "Batman"-Kumpel Pierre-Emerick Aubameyang beim 3:0 gegen Schalke.

Oder sein sensationelles Solo gegen Besiktas, als er gleich zwei Spieler hintereinander vernaschte.

Vielleicht auch an den Ausgleichstreffer beim Westfalenstadion-Wunder gegen den FC Malaga, als der BVB der Nachspielzeit das Spiel drehte und das Champions-League-Finale perfekt machte.

BVB-Momente für die Ewigkeit.

Reus wird den Klub als BVB-Legende verlassen, das ist keine Übertreibung. Er, der hier geboren wurde und aufgewachsen ist, die Jugendmannschaften durchlief und nach einem längeren Umweg zwölf Profijahre in Dortmund verbrachte. Ein Dortmunder Jung eben. Nicht der nahbarste, trotzdem aber Publikumsliebling, Idol, Gesicht des modernen BVB. Vielleicht auch, weil seine Karriere von Höhen und Tiefen geprägt ist. "Mehr Höhen", betonte er in seinem Abschiedsvideo vor zwei Wochen.

Rückschläge gehörten dazu. In der Dortmunder Jugend wurde er gewogen und für zu leicht befunden, aussortiert. Ein Fehler, der den Klub später 17,5 Millionen Euro kostete. So teuer war 2012 die Ablöse für den Offensivstar, die an Borussia Mönchengladbach floss, wo ihm der Durchbruch gelang.

Verflucht gut

2012, als Reus zu Dortmund zurückkehrte, war er einer der aufregendsten Spieler der Liga, die wohl heißeste Aktie. Ein Phänomen. Schon in Gladbach unter Trainer Lucien Favre hatte er die halbe Liga verzaubert. Ein Mix aus Speed, Technik, Übersicht und Abschlussstärke. Der frischgebackene Doppel-Meister mit all den Götzes und Lewandowskis bekam nun noch diesen Monster-Reus. Ein Versprechen auf eine goldene Zeit, eine neue Ära. Es kam dann aber doch etwas anders.

Reus hatte das Pech, in genau der Zeit zum BVB gestoßen zu sein, in der die Bayern-Dominanz historische Ausmaße annahm. Zunächst unter Jupp Heynckes und Pep Guardiola, dann unter Hansi Flick. Erst in der Phase Nagelsmann/Tuchel begann diese wieder zu bröckeln. Die größte Chance, die Bayern zu entthronen, verpasste der BVB aber im vergangenen Jahr am letzten Spieltag. Nach dem 2:2 gegen Mainz saß Reus weinend auf dem Rasen des Heimstadions. Der maximale Heartbreak-Moment.

Zu seiner Geschichte gehört eben auch: In seinen zwölf Jahre beim BVB gewann der 34-Jährige bisher keinen großen Titel. Mehr Supercup-Trophäen (drei) als anderes Edelmetall zusammen. Natürlich zwei DFB-Pokalsiege, aber die hinterlassen nicht ganz so viel Eindruck. Aber auch: keine Meisterschaft, kein europäischer Titel. Das brachte ihm, diesem verflucht guten Offensivkünstler, den Ruf des etwas Unvollendeten ein. Reus - ein Underachiever? Es haftet bis heute an ihm. Trotz all des Könnens, der persönlichen Erfolge - es blieben irgendwie ein paar Restzweifel.

Deutlich wurde das auch in der späteren Zeit in Dortmund. Von 2018 bis 2023 trug Reus die Kapitänsbinde der Schwarz-Gelben und damit auch mehr Verantwortung auf den Schultern. Auch in dieser Zeit bissen sich die Dortmunder national die Zähne an den Dominanz-Bayern und international an Großkalibern wie Juve, Real, Chelsea oder City aus. Die Nicht-Titel und all die Vizemeisterschaften (sieben Stück an der Zahl), sie wurden noch mehr mit Reus in Verbindung gebracht, was nicht immer fair war. Die vielzitierte Mentalitätsdebatte kochte über, Reus selbst verlor darüber die Nerven. "Das geht mir so auf die Eier", polterte er 2019 nach einem 2:2 gegen Frankfurt. "Ihr mit eurer Mentalitätsscheiße". Zwei Jahre später reagierte er nach einer überstandenen Schwächephase des Teams mit dem legendären Zitat: "Jeder ist auch nur ein Mensch."

Was wäre wenn?

Der Mensch Reus wurde von den Fans geschätzt, der Fußballer ebenso. Nur die allergrößte Liebe war es nicht immer. Dafür hielt Reus dem Klub radikal den Spiegel vor - eben oft ein Stagnieren auf allerhöchstem Niveau. Seine Bedeutung für den Klub ist immens: Insgesamt lief Reus für den BVB in nun 428 Pflichtspielen auf, erzielte 170 Tore und spielte 131 Vorlagen. Brutale Werte. Damit belegt er Platz vier in der Liste der Rekordspieler des Vereins und den zweiten Rang der Top-Torschützen. Nur Adi Preißler steht vor ihm.

Reus erlebte sieben Trainer. Klopp, Tuchel, Bosz, Stöger, Favre, Terzić, Rose und dann wieder Terzić. Sie kamen, alle setzten auf ihn, sie gingen - Reus blieb. Trotz vieler Angebote von allerlei Top-Klubs. Die Loyalität, auch sie gehört zur Nummer 11 des BVB.

Das wissen auch die Fans zu schätzen. "Identifikation und Loyalität sind das, wofür dein Name steht", "100 Prozent Dortmunder" und "Wenig Worte, viele Taten - 100 % einer ganzen Dekade" waren nur einige der Plakate auf der Südtribüne zum Reus-Abschied.

Mehr Tiefen als Höhen hatte hingegen seine Zeit im Nationalteam. Wenn er dabei war, wie 2018, lief kaum etwas zusammen. Dabei war er eine der Hoffnungsträger, als er 2012 ins ohnehin mit Talenten gesegneten Team von Bundestrainer Joachim Löw stieß. Bei der EM 2012 ging es noch ins Halbfinale, Reus kam in den K.o.-Spielen auch zu Einsätzen. Den WM-Sieg 2014, bei dem er womöglich einer der großen Stars geworden wäre, verpasste er dann wegen eines Syndesmosebandrisses, den er sich im letzten Testspiel vor dem Turnier gegen Armenien zuzog. Auch bei der EM 2016 (Schambeinentzündung) und dem Confed-Cup-Sieg 2017 (Kreuzbandriss) fehlte er verletzungsbedingt. Das letzte Spiel bestritt er 2021 gegen Liechtenstein. Reus und das DFB-Team - es sollte nicht sein.

Überhaupt die Verletzungen, sie nehmen ein dickes Kapitel in dieser Karriere ein. Insgesamt verpasste Reus seit 2012/13 unfassbare 213 Partien wegen Verletzungen und Krankheiten. Es bleibt eine große "Was wäre, wenn"-Frage in seiner Laufbahn.

Henkelpott zum Abschied?

Und ja, in Wembley schließt sich nun der Kreis. In der ersten BVB-Saison erreichte Reus - nach dem legendären Halbfinale gegen Málaga - das Champions-League-Endspiel in Wembley. Reus und der BVB verloren knapp gegen Arjen Robbens FC Bayern. Ein Stachel, der tief sitzt. Im allerletzten Spiel für den BVB also kehrt Reus an diesen ikonischen Ort zurück. Den Sehnsuchtsort der Fußballer. Das Happy End am Horizont. Reus kann tatsächlich mit dem Henkelpott in den Sonnenuntergang reiten.

Wobei seine Karriere so oder so noch weitergeht. Er liebe den Fußball zu sehr, um jetzt schon aufzuhören, erklärte Reus. Wohin die Reise geht, ist noch unklar. Alles deutet darauf hin, dass er erstmals in seinem Berufsleben NRW verlässt und den Sprung über den Atlantik wagt. Die USA locken, Ex-Kollege Roman Bürki will ihn zu St. Louis lotsen. Die MLS steht ihm offen. Genau wie eine Rückkehr zum BVB. "Wir hoffen sehr, dass er im Anschluss an seine Profikarriere zum BVB zurückkehren wird, denn hier in Dortmund warten genug spannende Aufgaben auf ihn", versprach Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke.

Davor aber steht noch das größtmögliche Highlight an. Wembley. Nicht das Rematch gegen Bayern, dafür Real Madrid. Viel mehr geht nicht. Viel mehr Kitsch-Potenzial auch nicht. Schon nach dem Halbfinal-Coup gegen PSG durfte Reus mitten im Auswärtsmob feiern, Lieder anstimmen. Er fühlte sich sichtlich wohl. Es wirkte wie die große Liebe auf den letzten Blick.

"Jetzt müssen wir ihn auch holen - sonst wäre es scheiße", sagte Reus nach dem Halbfinale über den Showdown um den Pott. Der maximale Erfolg im letzten BVB-Spiel? Es wäre die größte Pointe der Karriere. Die Vollendung des "Unvollendeten".

Emmanuel Schneider